Kapitel 12
Eine sehr schöne Sache in New York ist, dass es immer wieder Dinge gibt, die tatsächlich kostenlos angeboten werden. Nach ein paar Monaten und der Erfahrung wie teuer alles ist, freut man sich sogar über die kleinsten Dinge, die man umsonst bekommt, wie ein Kind über einen Gratis-Lutscher.
Und gerade für unsere Kinder wurde in Battery Park City so einiges geboten, wie z.B. kostenloses Fußballtraining, das unser sportlicher Junge Quentin „ganz toll!“ und unser nicht so sportlicher Junge Rafael „extrem überflüssig!“ fand.
Trotzdem oder gerade deswegen haben wir beide oft dazu bewegen können, daran teilzunehmen und später dann auch in der Downtown Soccer League, die ebenfalls nur einen akzeptablen Unkostenbeitrag von $125 für 3 Monate wollte.
Das machte dann schon Spaß, die vielen hundert Kinder, die mit Ihren Eltern in diesem schönen Stadtteil lebten, beim Kampf um Tore und Siege beobachten und betreuen zu können.
Aber nicht nur für Kinder, auch für uns mehr oder weniger Erwachsene, gab es immer wieder kostenlose Dinge, wie z.B. ein Konzert eines aus Deutschland stammenden DJs mit Namen Zedd, den wir uns unbedingt ansehen und anhören wollten.
Ja, ich weiß, jeder der DJ Zedd kennt, wird sich jetzt wundern, warum Leute in meinem „jugendlichen“ Alter da hin gehen. Aber was soll ich machen?! Ich hüpfe immer noch gerne tanzend durch die Gegend. Allerdings am liebsten, wenn es dunkel ist und ich nicht dauernd gefragt werde, ob ich versehentlich die falsche Haartönung verwendet habe. Manche halten mich dann auch oft für einen Untoten. Zum einen wegen meiner kaum sichtbaren Falten und zum anderen wegen meines eher „zeitlosen“ Tanzstils… 😉
In jedem Fall hatten wir uns Online für das Gratiskonzert von DJ Zedd angemeldet und sehr gefreut, dass die Karten nicht, wie sonst immer, innerhalb von Millisekunden weg waren. Eigentlich gab es in diesem Fall gar keine Karten, sondern nur eine Email-Bestätigung, aber das störte uns (noch nicht) weiter.
Weil wir uns schon dachten, dass sich, wie in New York üblich, ganz viele kleine Menschenkinder auf den Weg zum Pier 84 am Hudson machen würden, waren wir dann auch frohen Mutes, ungefähr 3 Stunden vor Konzert-Beginn, unterwegs dorthin.
Halt! – Ich habe das Wichtigste vergessen. Kris ist ja eine Frau – und was ist das Wichtigste für Frauen? Nein, nicht kochen und putzen… Nein, auch nicht „alles machen was der Ehemann will“. – Natürlich… Schuhe und was hübsches zum Anziehen.
Außerdem muss das ja alles perfekt zusammen passen. Die Schuhe müssen schön, aber auch zum Tanzen geeignet sein. Enthaarung ist auch ganz wichtig. Die richtige Schminke an den richtigen Stellen, sowie ein Kleid, das zum Wetter, zur Jahreszeit, der Veranstaltung, der Luftfeuchtigkeit, den Sonnen-Protuberanzen, der Quadratwurzel aus Pi und noch ein paar anderen Sachen passt, die ich aber noch nie in einen logischen Zusammenhang bringen konnte.
Was wiederum der Grund dafür ist, warum mir diese hochwissenschaftliche Herangehensweise an den weiblichen Kleiderschrank auch weiterhin ein vollkommenes Rätsel bleiben wird.
Wieso muss ich als Frau, siebenundzwanzig verschiedene Outfits anziehen, bevor ich mich dann doch für das Allererste entscheide?
Na ja, irgendwann schafften wir es aus dem Haus und fuhren mit unseren Fahrrädern, die jetzt kostengünstig in unserem Wohnzimmer geparkt wurden, am Hudson entlang in Richtung Veranstaltungsort.
Dieser Fahrradweg am Hudson ist eine wirklich schöne Sache, wenn nicht gerade Rushhour ist oder Menschenmassen, wegen irgendeiner anderen Veranstaltung, den Weg versperren.
Leider ging das Ganze aber nicht ganz so schnell vonstatten, wie ich mir das gewünscht hätte, weil meine Frau in einem anderen Geschwindigkeitsuniversum als der Rest der Menschheit lebt.
Erst als ich sie ausgesprochen höflich darauf hingewiesen habe, dass mein Fahrrad jeden Moment umfallen könnte, wenn wir noch langsamer fahren würden, hatte sie, ohne sich darüber auch nur im Geringsten zu ärgern, etwas fester in die Pedale getreten…
Okay, vielleicht fuhr sie auch etwas schneller, weil sie meine Bemerkung grenzwertig unlustig fand und meine „blöde Visage“ nicht mehr sehen wollte.
Aber egal! Wir näherten uns dem Ziel jetzt etwas schneller und dafür lasse ich mich gerne mal ein wenig beschimpfen, wenn es wirklich notwendig ist. 🙂
Schon von weitem konnten wir gut erkennen, dass wir wohl nicht die Einzigen waren, die die Idee hatten, einen deutschen DJ mit unseren extravaganten Tanzkünsten zu beglücken.
Tatsächlich war die Schlange, als wir dort ankamen, bestimmt schon eine Meile lang und das ca. 2,5 Stunden vor dem Beginn des Events. Später war die Schlange dann so lang, dass wir das Ende, der sich am Hudson entlang aufgereihten Ameisen-Tänzer, nicht mal mehr sehen konnten.
Aber gut, wir waren ja zumindest im vorderen Drittel aller Wartenden halbwegs rechtzeitig angekommen.
Ein wenig komisch fühlte ich mich aber schon, bei Tageslicht, unter all diesen viel jüngeren und leicht bekleideten Mädchen. Okay, Jungs waren auch da, aber die fielen nicht ganz so auf. Wenigstens mir nicht! 😉
In jedem Fall standen wir jetzt in dieser Vorfreude-schwangeren Umgebung und unterhielten uns über all die lustigen Menschen, die wir um uns herum sahen. Nein, NATÜRLICH haben wir nicht gelästert!
In New York sieht man einfach so viel Interessantes oder auch Abstruses, dass einem der Gesprächsstoff selten ausgeht. Von der spärlich bekleideten Oma im Minirock bis zum ehemaligen Soldaten im, mit amerikanischen Flaggen verzierten, Liegefahrrad, sieht man an so einem schönen Abend so einiges.
Natürlich bemerkten wir, dass sich an einer Stelle der Schlange vor uns immer wieder ein paar neue Leute rein drängelten, aber wir wollten das nicht nachmachen, weil die meisten Menschen in New York tatsächlich nicht drängeln und wir das, nach unserem Jahr in Barcelona, als sehr angenehm empfanden.
In Barcelona geht ohne Drängeln nämlich fast nichts. Selbst an einem Essenstand an dem gerade drei Personen stehen, wird dort in der entsprechenden Situation einfach übersehen, dass es noch andere hungrige Lebewesen geben könnte…
Es war ein sehr warmer Abend, ohne auch nur ein Wölkchen am Himmel. Perfekt um den ganzen Abend abzutanzen.
Erstmal warteten wir aber 2 Stunden lang im Stehen bis plötzlich Bewegung in die Schlange kam und tatsächlich ein Mini-Eingang geöffnet wurde. Leider hatten sich mittlerweile so viele weiter vorne reingedrängelt, dass es nur extrem langsam voran ging und sogar Kris auf dem Fahrrad schneller gewesen wäre… 😉 Kleiner Scherz am Rande!
Trotzdem kamen wir dem Eingang immer näher und regten uns nur kurzfristig über die Drängler auf, wahrscheinlich alles keine New Yorker, sondern Touristen aus „sonst woher“. Ich wollte jetzt hier bewusst kein Land nennen, man soll ja keine Vorurteile gegenüber spanisch sprechenden Menschen haben, schon gar nicht wenn man später in Miami lebt… 😉
Endlich war also Kris an der Reihe und bekam ein Bändchen um das Handgelenk. Sie war somit eine der Glücklichen, die das Pier betreten durften. Dummerweise wurde genau in dem Moment, in dem ich das Bändchen erhalten sollte, die Alterskontrolle eingeführt und die Durchsage getätigt, dass keine Typen über 28 mehr aufs Gelände gelassen würden…
Ja, DAS hätte ich wenigstens noch verstanden!
Da es hier in den USA mehr Regeln als Einwohner gibt, wundert man sich nach einer gewissen Zeit über fast nichts mehr. „Ist halt eine Regel!“ – und Regeln müssen befolgt werden, weil sonst das Abendland untergeht oder die Sonne explodiert oder irgendwas ähnliches!
Natürlich wurde – nicht – kurzfristig das Zugangsalter verändert. Es passierte etwas viel Schlimmeres und Unglaubliches, und das, nach all dem, was wir schon erlebt hatten. Ich versuchte ja ursprünglich Kris dazu zu drängen eine halbe Stunde früher los zu gehen, aber sie musste ja noch schwerwiegende Bekleidungsprobleme bewältigen.
Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!
Tatsächlich waren die Ordner schon 2-3 Minuten bevor Kris das Bändchen bekam unruhig geworden. Natürlich hatte ich sofort, leider wie immer richtig, vermutet, dass der Zugang demnächst geschlossen werden würde. Kris hatte aber gesehen, dass das nette Mädel mit den Bändchen noch genügend davon in der Hand hielt und mich nur ausgelacht. „Du sollst nicht immer alles schwarz sehen! Wir sind doch schon fast drin!“ meinte sie… Ich halte mich ja für einen optimistischen Realisten, was sich auch an diesem Abend erneut bestätigen sollte.
Es gab nämlich kein Bändchen mehr für mich – und es entstand sofort eine ziemlich große Unruhe, weil hinter uns ja noch ein paar tausend andere auf das glücklichmachende Bändchen warteten.
Im Chaos liefen die Leute und Ordner durcheinander, ein paar versuchten die Absperrungen seitlich zu durchbrechen, ein paar andere rannten einfach durch die Kontrollen, Kris versuchte einen der Ordner zu rufen, weil sie ja schon ein Bändchen hatte und ihre ältere „Begleitperson“ noch keins… aber es half alles nichts.
Die Ordner sperrten rigoros den Zugang ab und verkündeten per Lautsprecher-Durchsage, dass sie „so sorry!“ wären, aber dass der Zugang jetzt aufgrund des großen Andrangs geschlossen werden müsste. Nein, sie haben nicht durch gesagt, dass sie mich wegen meines Alters nicht rein lassen wollten, aber das machte mich trotzdem nicht glücklicher.
Stundenlanges Warten für nichts! Außer der Erkenntnis, dass in New York einfach zu viele Menschen leben, die alle das Gleiche tun wollten: Spaß haben.
Und weil das eben auch rein physikalisch oder platztechnisch nicht geht, wurden wir jetzt einfach ausgeschlossen. Wir gehörten nicht dazu!
So schlecht hatte ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich in der fünften Klasse im Turnunterricht als letzter in die Fußballmannschaft gerufen wurde. Ja, aber damals konnte ich dann wenigstens noch beweisen, dass ich auch zum Tore schießen in der Lage war – auch wenn ich viel besser Tennis spielte als Fußball.
Aber dieses Mal gab es ja noch nicht einmal einen Ball für mich. Nichts! Einfach nichts!
Es dauerte ungefähr 20 Minuten bis sich alle Zurückgelassenen mehr oder weniger beruhigt hatten und den Platz der Enttäuschung verließen. Das Pier war leider auch zu lang um das Ganze irgendwie von außerhalb zu verfolgen…
Insofern schwangen wir uns, noch tausend deutsche Flüche murmelnd, versteht ja dort eh keiner, auf unsere Fahrräder und fuhren im absoluten (aber nicht vorgeschriebenen) Schneckentempo wieder in Richtung Battery Park City.
Wenigstens fuhren wir so langsam, dass keine störenden Windgeräusche an unsere Ohren drangen und wir uns dabei gut unterhalten konnten – und natürlich erstmal über den Grund stritten, warum wir es nicht geschafft hatten…. „Du bist einfach nicht für das Großstadtleben gemacht! Immer kommen wir überall zu spät!“ war eine meiner Bemerkungen, die Kris’ Stimmung nicht weiter aufhellte. Während ich zu hören bekam, dass ich mich „mal wieder, wie ein Opa, nicht vor drängeln wollte.“…
Na ja, so ist das eben, wenn man schon fast 20 Jahre zusammen ist – oder auch zusammen isst.
„Essen“ war genau das richtige Stichwort und mit Hilfe von Yelp fanden wir in kürzester Zeit einen richtig schönen und sehr guten Italiener (Ovest Pizzoteca).
Eine Flasche Wein später konnten wir dann langsam sogar über unser Erlebnis lachen.
„Es leben einfach zu viele Menschen in New York!“ war von da an einer meiner Standardsprüche, den ich mittlerweile aber auf den gesamten Planeten ausgeweitet habe… Stimmt doch auch – oder?
Die Ovest Pizzoteca besuchten wir danach noch öfter. Selten jedoch mit dem Fahrrad – aus den weiter oben schon mehrfach erwähnten Gründen… 😉
PS: Kris legt Wert darauf, dass meine Fahrraddurchschnittsgeschwindigkeit bei 35 km/h liegt und kein „normaler“ Mensch so schnell fährt… außerdem hätte sie garantiert nicht „Opa“ gesagt… 😉
Ende von Kapitel 12
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Und das in einem Land, in dem absolut nichts und niemand diskriminert werden soll… Ich glaube, ich wär da nicht weggegangen, ohne mich bei einem Vorgesetzten beschweren zu können…
Da war richtiges Chaos und als die den Eingang geschlossen haben, sind sie sehr rigoros vorgegangen. Zuerst sah es auch aus als ob eine Panik entstehen würde… da waren außerdem jede Menge Leute, die noch versucht haben mit irgendwem zu diskutieren, aber sie haben einfach komplett dicht gemacht.
@Udo: Und das ist mal wieder typisch deutsch – sich beschweren, weil man nicht bei einer Gratisveranstaltung reinkommt (lachhaft).
Nach fast 10 Jahren Aufenthalt im europäischen Ausland haben wir die disziplinierte deutsche Schlange schätzen gelernt. Meine niederländische ehemalige nette Nachbarin sagte uns mal, dass wir Deutschen viel zu anständig und rücksichtsvoll sind. Ich weiß nicht ob dies so stimmt, aber vordrängeln kann ich mich noch immer nicht. Probiert habe ich das schon, irgendwie macht das aber auch nicht glücklicher.
Ja, ich bin auch kein Drängler… nur wenn es wirklich nicht anders geht! 😉